Anne-Sophie Zbinden

Editorial

Anne-Sophie Zbinden ist die Chefredaktorin von work.

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Tick Tack, Tick Tack

Die «Unruh» ist das Herzstück einer mechanischen Uhr. Sie gibt dem Ticktack den Takt vor. Zusammen mit der «Hemmung» sorgt sie dafür, dass die Zeit nicht im Nu verfliegt. Beide sind Teil eines filigranen «Schwing­systems», zuständig für Pünktlichkeit im Rädchenwerk. Die «Réglage», die Feinregulierung, erfolgt in ruhigster Handarbeit. Ein Auge blickt durch die Uhrmacherlupe, in der Hand die Pinzette: so erschaffen Uhrmacherinnen und Uhrmacher in jahrhundertealter Tradition ein Kunstwerk. Gefertigt aus weitgereisten Rohstoffen, für Kundschaft aus aller Welt – schon seit je ein globalisiertes Produkt. Ein Luxusprodukt. Rund 1,6 Millionen Franken kostet die Reverso Hybris Mechanica Calibre 185 des Traditionshauses Jaeger-­LeCoultre im jurassischen Vallée de Joux.  Die Reverso Tribute Duoface Calendar kostet noch 26 700 Franken, die Reverso Tribute Monoface Small Seconds gibt’s bereits für 8550 Franken. Das ist noch immer viel mehr, als eine Uhrenarbeiterin durchschnittlich im Monat verdient. Umso erfreulicher: Die rund 50 000 dem Uhren-GAV unterstellten Arbeiterinnen und Arbeiter erhalten bis zu 6,1 Prozent mehr Lohn. Eigentlich nichts als logisch. Denn das Geschäft mit den Luxusuhren läuft wie geschmiert. Monatlich melden die Uhren­konzerne neue Export-Rekordzahlen. Bis Ende Jahr dürfte die Schweiz für deutlich mehr als 20 Milliarden Franken Uhren exportiert haben. Die Uhren-Patrons haben begriffen, wem sie diese Rekordumsätze verdanken. Und werden hoffentlich auch bei den kommenden GAV-Verhandlungen daran denken.

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Das Phänomen Lula

2022 ist das Jahr des fast endlosen Sommers. 1816 war das Jahr ohne Sommer. Heuer sind die Rekordtemperaturen menschengemacht. 1816 war die Staub- und Aschewolke nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien verantwortlich. Die Folge: Ernteeinbussen, Teuerung, Hungersnöte. Auch in der Schweiz. Deshalb machten sich in der Folge rund 2000 Schweizer Wirtschaftsflüchtlinge auf den beschwerlichen Weg nach Brasilien. Dort gründeten sie 1819 die Stadt Nova Friburgo, in den sanften, an die Voralpen erinnernden Hügeln nordöstlich von Rio de Janeiro. Anfang 2003 besuchte ich diese Stadt mit ihren Gruyère-Schaukäsereien und Chalets und lebte bei einer Familie in ihrem stattlichen Haus am Stadtrand. Kurz zuvor hatte in Brasilien eine neue Ära begonnen: Luiz Inácio da Silva, kurz Lula, Chef der Arbeiterpartei, war zum Präsidenten gewählt worden. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Doch meine gutbetuchten Gastgeber freuten sich nicht. Sie hatten Lula nicht gewählt. Die Begründung hinter vorgehaltener Hand: Er könne ja gar nicht lesen und schreiben. Wie bitte? Aber klar, der gelernte Schlosser war und ist kein Präsident der Reichen.

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Solidarität beginnt bei einem Bruch

Dass Sexualität kein Tabu-Thema mehr ist, haben wir auch Margaret Mead (1901–1978) zu verdanken. Die US-Amerikanerin reiste 1925 alleine auf die Pazifikinsel Samoa, um das Heranwachsen und das sexuelle Verhalten junger Mädchen zu erforschen. Aus dieser und anderen Feldforschungen zog sie den Schluss: Das Umfeld bestimmt das Verhalten der Geschlechter und nicht die Biologie. Mit dieser These wurde Mead zu einer der berühmtesten und auch umstrittensten ­Ethnologinnen ihrer Zeit. Mead wird eine Anekdote zugesprochen, die aktueller nicht sein könnte: Als Mead von einer Studierenden gefragt wurde, was sie historisch als erstes Zeichen der Zivilisation betrachte, war ihre Antwort so überraschend wie einleuchtend: Es sei ein gebrochener und wieder zusammengewachsener Oberschenkelknochen. Kein Tier in der Wildnis überlebe einen Beinbruch lange genug, damit er heilen könne. Der geheilte Oberschenkelknochen beim Menschen erbringe den Beweis, dass sich jemand um den Verletzten gekümmert, ihn gepflegt und lange genug geschützt habe, bis der Knochen geheilt war.

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Lilafarbene Frische

Was bleibt, ist frischer Mut. Frauenstreikduft liegt in der Luft! Das Datum steht, save the date: am 14. Juni 2023 sind wir bereit! Vor drei Jahren gingen an diesem Tag eine halbe Million Menschen auf die Strasse und tauchten die Schweiz in ein lila Farbenmeer. Der feministische Streik 2019 war kraftvoll und laut. Aber offensichtlich haben gewisse gutbetuchte Herren und Damen diesen Tag der Tage bereits wieder vergessen, wie das Ja zur AHV-Abbau-Vorlage auf dem Buckel der Frauen gezeigt hat («Wir sind gekommen, um zu bleiben!», AHV 21 am 25. September: Oben gegen unten). Vielleicht braucht es nach der lila Welle jetzt eine lila Flut, für Lohngleichheit, für eine faire Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, für frauenfreundliche Arbeitsplätze … Das Abstimmungsresultat gibt dem Mut Schub für die Flut.

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Nein und doppelt nein!

Sie war eine grossartige Frau, eine Kämpferin mit Stil und Haltung. Und sie verstarb drei Tage vor der Queen, mit weit weniger Medienrummel: Margrith Bigler-Eggenberger, die erste Schweizer Bundesrichterin und mutige Vorreiterin für die Gleichstellung von Frau und Mann. Nur drei Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts wurde die SP-Frau 1974 ins Amt gewählt. Und sorgte für Aufruhr: Jemand hatte Teile ihres Bewerbungsdossiers verschwinden lassen, und so wurde die Anwältin und Richterin dem Parlament als Praktikantin und Hausfrau präsentiert. In einem Interview sagte sie später: «Mir wurden alle Fähigkeiten abgesprochen.» Es habe Kollegen gegeben, die sich weigerten, mit ihr zu sprechen. Die Zeitung «Ostschweiz» machte sie sogar zur «Mörderin im Bundesgericht», weil sie sich für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch einsetzte.

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O sole mio!

In der Not frisst der Teufel Fliegen. Oder Holz. Nur so lässt sich der Boom der Holzgas-Autos in den 1940er Jahren erklären. Weil im Zweiten Weltkrieg Benzin rar und teuer war und E-Autos noch in weiter Ferne, wurden Holzvergaser an Carrosserie oder Anhänger befestigt und an Holztankstellen aufgefüllt. In der Nachkriegszeit, als das Öl wieder reichlich und billig floss, war’s dann wieder vorbei mit diesem erneuerbaren Antrieb. Vielleicht auch, weil er sonst noch so einige Tücken hatte …

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Ach, du lieber Schwan!

Das Nachbarskind hat mir kürzlich offenbart, sein Berufswunsch sei Reichwerden. Aber wie? Als Mafiaboss oder eine Bank überfallen? Nein, in der Schweiz geht’s auch ganz legal: als Pharma-Chef, Bank-CEO oder Ems-Chemie-Aktionärin. Das ist leider nicht neu. Empörend ist aber die Dreistigkeit, mit der sich die Reichen trotz Krise bereichern. Im letzten Jahr hat sich die Lohnungleichheit in der Schweiz noch vergrössert.

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Tschüss!

Das sagt uns die eine Büroreinigerin immer, wenn sie fertig ist. Geht zur Türe raus und winkt zurück. Abend für Abend. Und tschüss, uf Widerluege, arrivederci, bye-bye, sage jetzt auch ich. Nach 440 work-Ausgaben und 20 Jahren als Chefredaktorin gehe ich in Pension. In den Unruhestand. Gerührt und etwas geschüttelt nehm ich auch all das Lob und die Komplimente mit auf den weiteren Lebensweg, mit denen mich Vania Alleva, Doris Bianchi, Peter Bichsel, Peter Bodenmann, Maria-Teresa Cordasco, Dore Heim, Natalie Imboden, Hans Ulrich Jost und Jean Ziegler in dieser Ausgabe verabschieden. Sie sind zu gütig! Und so bleibt mir an dieser Stelle denn nur noch zu danken. Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dass Sie mich so lange begleitet haben. Gerügt und gerühmt, belehrt und beglückt, angestossen und angefeuert. Zum Nachdenken gebracht. Zum Überdenken. Und dann wieder zum Wissen. Wissen, wie weiter.

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Die Verwirrung ist gross

Immer noch verdienen die Frauen in der Schweiz rund 20 Prozent weniger als die Männer. Dieser Unterschied und seine grossen Folgen waren auch an diesem Frauenstreiktag wieder ein Thema. Und wieder gaben die rund 20 Prozent Lohndifferenz zu reden. Selbst unter Feministinnen. Das geht dann etwa so: Sind diese rund 20 Prozent Differenz nur diskriminierend? Und wofür stehen sie schon wieder? So fragen die einen. Stehen sie für gleichwertige oder gleiche Arbeit? Und die anderen meinen: Aber der nicht erklärbare Lohnunterschied beträgt doch nur 8 Prozent! Das ist doch die wirkliche Lohndiskriminierung. Wir sollten also nur über diese nicht erklärbaren 8 Prozent reden. Weil der Rest ja erklärbar ist. Erklärbar durch Faktoren wie Ausbildung, Teilzeitbeschäftigung, Erwerbsunterbrüche, Karriereverlauf usw. Weil sonst machen wir uns doch unglaubwürdig beim politischen Gegner! Oder?

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Der Riri-König

Riri, das ist wie Maggi: ein Markenname fürs Produkt. Riri für Reissverschlüsse, made in Switzerland. In der Riri-­Fabrik in Mendrisio im Tessin, dem Riri-Hauptwerk, pro­duzieren heute noch 200 Mitarbeitende für die ganze Welt. Es sind vor allem Frauen, vor allem italienische Grenz­gängerinnen. Zum Stundenlohn von 15 Franken 90 brutto. Doch nicht der Lohn ist es, der sie zum Streiken brachte. Es waren Rüpel-Chefs und haarsträubende Arbeitsbedingungen in der Fabrik. Und ihr Streik hat sich gelohnt, wie work-Redaktor Jonas Komposch recherchiert hat. Eine richtige Kopf-hoch-Geschichte!

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Zur Sonne, zur ­Freiheit

Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Nicht oft, aber unverhofft. Und jetzt gerade im Wallis. Genauer im Bergdorf Grengiols, das sie «Grängelsch» aussprechen. Das Bergdorf mit rund 450 Seelen ist berühmt für seine wildgelben Tulpen, die «Grängijer Tulpa». Und neuerdings auch für seinen Gemeindepräsidenten Armin Zeiter. Er ist ein Mann, der sich traut. Und will im Sa­flischtal die solare Revolution einläuten. Sie heisst Grengiols Solar. An den Sonnen­hängen des Hochtals soll auf rund fünf Quadrat­kilo­metern der grösste Solarpark der Schweiz entstehen. Zeiter sagt: «Eine sensationelle Idee!»

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Endlich wieder ­anbändeln!

Er ist rot, mit schwarzen oder goldenen Lettern drauf, und manchmal hat er am unteren Rand sogar zwei Wimpel: der 1.-Mai-Bändel. Und wer ihn zu sehr anbändelt, bringt ihn fast nicht mehr los. Denn der kämpferische Bändel haftet zäh und stolz mit seinem leichten, seidenen Glanz. Zu Recht: Seit den ersten Schweizer 1.-Mai-Feiern in den 1890er Jahren gehört er schliesslich dazu.